Liliana Heer

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©2003
Liliana Heer

Neon
Translated by Karl Kaiser

sie
näht
das Jungfernhäutchen
der Braut
der Gefangenen

 

Erster Teil

I

Er war Reisender. Sie Näherin, aber es hätte auch umgekehrt sein können, dass sie reiste, während er nähte.
(Lassen wir es so).
Sie näht,
er reist,
fährt morgens mit einem Mustersatz im Koffer los und kommt abends mit den Aufträgen und manchem Zwischenfall zurück.
Sie hört mit Unterbrechungen zu, nicht, weil ihr Interesse fehlte; das Schweigen, in dem sie tagsüber verweilte, und das geschäftige Treiben der Schere gehen weiter ihren Gang.
Ob er es weiss?
Wahrscheinlich,
es gibt Abweichungen,
Variationen in seiner Sprache.

Wenn sie ihn anschaut, nimmt er weg, fasst zusammen, vereinfacht; wenn er sie von hinten sieht, über irgendein Objekt gebeugt oder mit den Augen zum Fenster gewandt, muss er Erklärungen geben, Ausflüchte, sogar lügen.
Manchmal hat er keine andere Wahl als nachzuahmen. Er hat drei oder vier Hilfsmittel. Sich die Anekdoten seiner Freunde zu eigen zu machen, missfällt ihm. Nicht, dass dies vorgekommen wäre; er hat noch nicht einmal versucht, einer Ruhmestat einen anderen Namen zu geben, sie vertraut zu machen. Er hat stets geglaubt, dass ein Nachahmer frühzeitig altert.
Er beabsichtigt etwas anderes. Wie jemand, der ein Tagebuch führt und mit grösserem Eifer die Dinge aufschreibt, deren Eintreten er gewünscht hätte, besteht seine Absicht darin, die Routine in etwas Erinnerungswürdiges zu verwandeln. Auf diese Weise begann er alles zu lesen, was für ihn erreichbar war, nicht nur zu lesen, sondern die Handlung zu forcieren und Kombinationen einzufügen. Seine Unkenntnis schüchtert ihn nicht ein; im Gegenteil, er vermeidet Vorbilder auf die gleiche Weise, wie er in seiner frühen Jugend die Gebote von sich abwies. Dieses Verhalten färbt seine Sprache. Spitze Kratzer,
crèmefarbener Hintergrund,
Windböen.
Neue Gebilde oder die Rückkehr zum Fortsetzungsroman?

Wenn Gott will, tötet er den Zauberer, sagt er, indem er seiner Alchemie Mut gibt, den Menschen unvollständige Geschichten in den Mund legt. Die Kürze seiner Kontakte hindert ihn fortzufahren, erläutert er. Sein Mund ist ein Reagenzglas.
Experimenteller Meister.
Zuerst verdrehen,
dann ausdehnen,
den Ton entdecken, der sie verblüfft.

Es ist nicht einfach, das Herz einer Frau zu erobern, die Zeuge unzählbarer Verbrechen war.

Sie hat die Sichtweise eines Klassikers, die Zauber der Isolation, sucht Reliefs zwischen der Berührung des Wassers und der Entfesselung des Hagels. Ihre Finger betasten die Seligkeit des Körpers: Balsam auf die Wunden.
In der Strenge der Seelenruhe gären Vibrationen, Antworten.
Wenn er dich ruft, fliehe, wiederholt sie instinktiv.
Das sensible Trommelfell,
achtsam auf den Nachhall.
Eine Kurtisane mit dem Ohr eines Luchses.
Aberglaube und Ausschweifung.
Alarmbereitschaft.
Ihr Gedächtnis speichert jeden Satz,
und neben dem Satz:
Eilande,
feuchte Ausdrucksspuren.
Man wird schon Zeit haben, um auszuwählen oder zurückzuweisen.
Was hineinkommt und was herausgeht, ist in ihrem Haben.
Sie war Wärterin im Bezirksgefängnis, dort lernten sie sich kennen.
Sie hat ein Gesicht, das Erinnerungen in dem erweckt, der bereit ist zu vergessen.
Nähen ist ein späterer Einfall.
Kunst der Flucht.
Die Schwalben werden wieder Schwalben, auch wenn der Winter kommt.
Safranpasteten auf der Erde und im Himmel.

Sie zieht es vor, den Reisenden nicht anzusehen, während er spricht; so stellt sie sicher, dass er abdriftet. Eine langsame Überraschung treibt nachts im Zimmer, der Silberfisch wogt ohne Gefühl für die auf dem Tisch verstreuten Stecknadeln.
Er fasst langsam Mut, während er spricht, übt sich in plötzlichen Tauchgängen, zieht Kurven, stürmt, erkundet. Seine Worte pflegen Nirvanas zu entfesseln. Er macht zwei oder drei Schritte auf sie zu, so als ob und ob nicht er sich annähern wolle. Er braucht sie nicht zu berühren, sein Körper in einigen Zentimetern Entfernung hat die gleiche Beredsamkeit wie seine Stimme.
Finster blickend und verlangend hat er es geschafft, der Blutschuld zu entrinnen und die wilde Gesundheit von Claudel wieder herzustellen.
Geruch nach Kuh und Menschenfleisch.

II

Obwohl die Näherin einen grossen Teil des Tages im Haus verbringt, bedeutet dies nicht, dass sie eingesperrt wäre. Nachmittags besucht sie ihren Vormund, den Gefängnisdirektor. Sie muss nur die Strasse überqueren, um ihn zu treffen.
Die Ausgänge sind nicht heimlich, sie haben Pflichtcharakter, nähren die Grenze einer wollüstigen Macht, zweifellos bringen sie den Reisenden dazu, immer wieder den Schrei des betrogenen Tieres zu hören.

Das Fenster, durch das sie schaut, ist blind. Der Kern des Kontrastgleich-gewichtes vervielfältigt sich. Die Scheiben sind geschliffen, und die Rolladen gewöhnlich heruntergelassen.
Paralleles und düsteres Reich. Es gibt keine Gardinen, die die Vorstellungskraft der Gefangenen verschleiern könnten; die Fensterlöcher der Zellen liegen dem Haus gegenüber.

Der Gefängnisdirektor überquert ebenfalls die Strasse, um sie zu sehen.
Er tut dies, wenn sie Radio hört und ihre Pflichten vernachlässigt, niemals in Gegenwart des Reisenden.
Er hat einen Schlüssel, klopft aber mit dem Gehstock an. Sie sind immer unterschiedlicher Meinung über Schlösser gewesen. Beim Eintreten wirft er ihr vor, die Tür offen gelassen zu haben.

Es ist eine Szene, die sich wiederholt, weil sie nicht gehorcht; sie hat aufgehört, das Mädchen zu sein, das er nach Lust und Laune ermahnte. Wenn er den Gehstock hebt, nimmt sie ihn ihm weg und droht, ihn zu schlagen.
Eine Karikatur.
Sie lachen häufig, wenn sie allein sind.
Etwas Stoff zum Brennen aufgelegt.

Der Vormund übertreibt mit Gesten, so wie der Reisende mit Worten.
Sie scheint nicht eine Frau zu sein,
sondern zwei.
Dies ist der Schlüssel, um etwas zu verstehen:
ist ein Hügel erworben, brechen die sandigen Stützen ein.
Keiner der drei redet von der Begnadigung.
(Alles begann früher).

III

Das Mädchen hatte sanfte Hände, die nicht schreiben konnten, aber Hefte mit Gekritzel füllten.
Wie er sie lieb gewann, ist eine Frage, die der Vormund sich noch heute stellt.

Das erste Mal, als sie in sein Büro trat, schob sie die Hand in seine Hosentasche auf der Suche nach Münzen. Mit zu kleinen Fingern, um die Uhr herauszuziehen, zerrte sie.
Sie waren allein.
Er erinnert sich nicht daran, sie geschlagen zu haben; an das Weinen des Mädchens erinnert er sich auch nicht.
Er glaubt, dass er sie nie hat weinen sehen.
Vielleicht hat er sie am Tag der Uhr so lange geschlagen, bis er merkte, dass sie nicht weinen würde.

Ihr Gedächtnis ist präziser.
Sie hatten ihr die Mandeln in der Gefängnisambulanz herausgenommen.
Ohne lange Vorrede.
Mund auf,
und er wurde ihr geöffnet.
Sie weinte, weil man ihr die Zunge herausschneiden wollte.
Sie ist wieder gewachsen, dachte sie, als sie die Finger hineinsteckte.

Atemnot, Blut, Stille.
Man brachte sie in das Büro des Vormunds, an Ihre Stummheit glaubend.
Eine Schelmerei, sagte er, und setzte sie auf seinen Schoss.
Danach schenkte er ihr ein Heft:
So macht man das, und er drückte ihre Hand gegen den Bleistift.
Das Mädchen würde nicht weinen, auch wenn er sie schlüge.
Er schlug sie, als er sah, dass sie den Schreibtisch verkratzte.
Er tat es erneut, denn er glaubte, dass er taub geworden wäre.
Was erwartete er?
Sie hätte fragen sollen, aber ihre Zähne blieben geschlossen.